Fachkräftemangel

By Wolfgang Keller
Originally written 2019-04-30
Last modified 2020-05-25

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Perspektive 1: Fachkräftemangel — ein Märchen der Wirtschaftsverbände?

Originally written 2019-04-30

Eine gerne geäußerte Meinung zum Thema „Fachkräftemangel“ ist, dass die Behauptung, es gebe zu wenig Fachkräfte in gewissen Bereichen, von Arbeitgeberverbänden in den Medien verbreitet wird, in der Hoffnung, dass dadurch mehr Menschen eine Ausbilung/ein Studium in dem Bereich anfangen, auf dass Arbeitgeber mehr Auswahl bei Bewerbern haben, was nach dem Marktgesetz von Angebot und Nachfrage zu sinkenden Gehältern führt. Also mit anderen Worten kurz zusammengefasst: Man propagiert einen Fachkräftemangel, um auf lange Sicht die Gehälter zu drücken.

Folgende Gegenhypothese: Könnte es nicht sein, dass entsprechende Absolventen aufgrund der Tatsache, dass sie sich in einem Mangelfach wähnen, deutlich selbstbewusster in Gehaltsverhandlungen auftreten und dadurch die Gehälter in den entsprechenden Bereichen steigen? Sollte also an diesem „Arbeitgeber-wollen-Gehälter-drücken“-Postulat etwas dran sein, so ist es nicht unplausibel, dass dieser Effekt somit möglicherweise ins Gegenteil umschlagen könnte.

Perspektive 2: Permanente Hypes

Originally written 2019-05-27

Gerade im Informatik-Bereich ist es meines Erachtens so, dass in einer permanenten Regelmäßigkeit neue Hypes als Säue/Sauen durch das Dorf getrieben werden. Das Problem: Es ist im Allgemeinen erst nach ein paar Jahren erkennbar, ob dieser Hype von Bestand ist oder wieder gar zu schnell in der Versenkung verschwindet. Ergo wird man erst, wenn die Zukunftfähigkeit abzusehen ist, beginnen, sich in das entsprechende Thema einzuarbeiten - also erst nach ein paar Jahren. Die einzige Ausnahme ist wohl die, dass man sich selbst aus privaten Gründen sehr für das besagte Thema begeistert.

Das bedeutet naturgemäß, dass erst nach ein paar Jahren, nachdem ein Hype durch die Medien zieht, mehr Menschen als ein paar „Early Adaptors“ beginnen werden, sich in das gehypte Thema einzuarbeiten. Was das für die Verfügbarkeit von Experten des entsprechenden Gebiets auf dem Arbeitsmarkt bedeutet, die außerdem auch noch den Wunsch verspüren, sich woanders zu bewerben, kann man sich leicht zusammenreimen.

Perspektive 3: Ablehnen geeigneter Bewerber

Originally written 2019-07-07

Wenn man viel Zeit in eine angemessen gestaltete Bewerbung investiert hat, aber im Bewerbungsprozess abgelehnt wurde, wird man, wenn man in Zukunft nochmal eine Stellenanzeige des selben Unternehmens findet — selbst, wenn diese interessant aussieht und in einer ganz anderen Abteilung desselben Unternehmens angesiedelt ist — deutlich weniger geneigt sein, nochmals den Aufwand in eine Bewerbung zu investieren.

Kein Wunder, dass sich unter solchen Umständen Unternehmen darüber wundern, dass sich auf ihre Stellenanzeigen viel zu wenige geeignete Menschen bewerben.

Was ein Unternehmen gegen dieses Problem tun könnte/sollte, ist folgendes: Wenn das Unternehmen einen Bewerber ablehnt, der durchaus für die Stelle geeignet wäre, aber im Rahmen des Bewerbungsprozesses ein noch besserer Kandidaten gefunden wurde, so sollte es (mit Einverständnis des Bewerbers) dessen Kontaktdaten speichern, um auf ihn/sie direkt zukommen zu können, falls eine Stelle frei wird, für die es die entsprechende Person gerne einstellen würde.

Dies würde das Unternehmen deutlich attraktiver für potentielle Bewerber machen, da diese sich sicher sein können, dass der Zeitaufwand für die Bewerbung auch dann nicht vergebens war, wenn sie die Stelle nicht bekomen.

Perspektive 4: Mögliche Maßnahmen

Originally written 2019-11-10

Ich bin wohl nur qualifiziert, etwas über mögliche Maßnahmen gegen den (vorgeblichen?) Fachkräftemangel im Softwareentwicklungsbereich zu schreiben.

Es ist vielen Menschen nicht bekannt, dass die Softwareentwicklung zum einen in immens viele isolierte Communities zersplittert ist. Zum anderen ist es in meinen Augen quasi eine Lebensaufgabe, eine Programmiersprache mit ihrem „Ökosystem“, inoffiziellen Normen und Werten etc. wirklich zu lernen. Dieses Problem ist, denke ich, vor allem deswegen nicht so sehr im Bewusstsein, weil in der praktischen Softwareentwicklung nur ein ganz kleiner Bruchteil dessen genutzt wird, was moderne Programmiersprachen und ihre Ökosysteme zu bieten haben. Dass dann auch noch regelmäßig neue Hypes durchs Dorf getrieben werden, verschärft das Problem um ein Vielfaches.

Als ersten Schritt würde ich daher den entsprechenden Wirtschaftsverbänden (eventuell in Zusammenarbeit mit der Politik) nahelegen, dass sie exakt definieren, welche exakten Fähigkeiten sie von Leuten, die sie einstellen wollen, wünschen. Keine vagen, schwammigen Aussagen, sondern beispielsweise Python auf Basis von Version 3.7, genaues Verständnis der Funktionen A,B,C der Core-Bibliothek, Funktionen D,E,F von NumPy, … Außerdem exakt definieren, welche „Testfragen“ entsprechende Leute in der Lage sein sollten, zu beantworten. Die Antworten auf die Fragen nach den konkreten „Kenntniswünschen“ dann clustern, damit wir überhaupt tatsächlich genau wissen, was die Firmen überhaupt wollen. Auf Basis dieser Cluster dann Profile entwickeln.

Als nächsten Schritt dann überlegen, wie man es gestaltet, dass Menschen die Möglichkeit haben, sich dieses Wissen selbst beizubringen (Anmerkung: Im Gegensatz zu vielen anderen Branchen hat in der Software-Branche autodidaktisches Lernen eine sehr große Bedeutung). Meine Überlegung wäre, dass Firmen anbieten, soundsoviel Gehalt + Jobsicherheit beispielsweise für 10 Jahre (aber auch umgekehrt für den Mitarbeiter Verpflichtung, für so lange zu bleiben) für Menschen, die das geforderte Wissen besitzen und/oder willens sind, sich den fehlenden Stoff anzueignen. Das wäre meines Erachtens ein Win-win für viele Seiten:

Perspektive 5: Mangel an Stellenanzeigen als Zeichen für Fachkräftemangel?

Originally written 2020-05-25

Jörg Sprave bringt in einem Beitrag auf Quora (Antwort von Jörg Sprave auf Wie ist der beste Weg um eine akademische Karriere als Arzt einzuschlagen? Ich bin Medizinstudent im 6. Semester und möchte eine eine experimentelle Doktorarbeit machen. Danach am besten an einer Uniklinik anfangen? Wie ist die Habilitation geregelt? - Quora [visited 2020-05-25T11:08:24Z]) einen sehr interessanten Punkt bezüglich Fachkräftemangels (Hervorhebung durch mich):

Wenn dann das zweite Staatsexamen "im Sack" ist, solltest Du durchaus anfangen Initiativbewerbungen zu schreiben. Es herrscht Ärztemangel in Deutschland, auch wenn die Krankenkassen etwas anderes behaupten. Die meisten Kliniken haben aufgegeben, im Ärzteblatt etc. mit Inseraten Bewerber zu suchen - es meldet sich niemand. Deshalb wirst Du bestimmt viele Zusagen bekommen. Wir haben damals sieben Bewerbungen an verschiedene Top-Unikliniken geschrieben und es kamen sieben Einladungen zu Bewerbungsgesprächen. Alle führten zu Jobangeboten. Also keine Angst vor Bewerbungen!

Dies führt auf folgende Hypothese: Kann man möglicherweise erst dann wirklich realistisch von einem Fachkräftemangel in einem Bereich sprechen, wenn Arbeitgeber aufgrund der Hoffnungslosigkeit, dass sich überhaupt noch Menschen auf eine inserierte Stelle bewerben (weil es so wenig Fachkräfte gibt), aufhören, Jobinserate einzustellen?